Les frères Chapuisat - Raum als improvisierter Körper

Kunstbulletin. Jens Emil Sennewald

Zürich. Switzerland

01 November 2011

Zwischenräume sind Lebensräume - diese Beobachtung hat die Brüder Chapuisat zu ihrer neuen Installation im CCSP geführt. In Häfen zwischen den Buhnen hausen oft Obdachlose, die riesigen Betonkörper zur Hafenbefestigung sind ihr Schutzraum. Nun füllen solche Wellenbrecher, aus Holz verkleinert nachgebaut, unter dem Titel komplett den Ausstellungsraum des Schweizer Kulturzentrums in Paris. Man kann sich zwischen ihnen hindurchdrücken, unter ihnen entlangkriechen, in einige sogar hineinschauen. Doch ihre Schwärze und Dichte lädt kaum dazu ein, hier Heimstatt zu finden.
Bis an die Grenze des Machbaren haben die beiden getrieben, was sie so gut beherrschen: vor Ort Körper aus Holz zu installieren. Sechs Wochen brauchten sie, um die zehn zuvor minutiös konzipierten, identischen Holzobjekte in den Raum zu fügen. Doch so sehr die Installationen der Genfer Künstler dazu einladen, sich am technischen Detail, an der Kraft und Fertigkeit ihrer Konstruktion zu berauschen, sie erschöpfen sich nicht darin.
In Frankreich mag man diese Art der Ortsbezähmung: Die Installationen von Vincent Lamouroux und Vincent Mauger werden gern und oft auf Festivals und Biennalen präsentiert. Darüber hinaus bekrabbelte bereits 1986 eine wuchernde Holzkonstruktion von Tadashi Kawamata den japanischen Pavillon der Venedig-Biennale. Spontanarchitekturen, in situ. Was fügen dem die beiden Brüder Neues hinzu?

Das grafische Moment
«Kern unserer künstlerischen Arbeit ist die Zeichnung. Cyril bearbeitet mehr den grafischen Teil, ich mehr die Koloration», erklärt Gregory Chapuisat, an einem Montag nach der Vernissage entspannt in Flipflops mit einer Flasche Single Malt Scotch Whisky und einer Tafel Schokolade im schattigen Hof der Pariser Insel Schweizer Kultur. «Zu den Konstruktionen haben wir als gemeinsames Terrain gefunden, auf dem wir dem organischen Wuchern unserer Zeichnung Behausungen geben.»
Das Objekt als beruhigende Wohnstatt - dabei sind die Installationen meist nicht sehr einladend, verunsichern mit zweifelhafter Statik, wie 2010 der dreissig Meter hohe Turm in den Katakomben der Sektkellerei Pommery in Reims. Diese einladend-unheimliche Präsenz der Gebilde wird im Centre Culturel Suisse besonders abends deutlich. Ohne Tageslicht werden die Holzklötze zu
schwarzen Formen, flachen den Raum ab zu einer vielgestaltigen geometrischen Zeichnung, welche die Lineatur des Raumes, seine Ecken, Winkel und Kanten zu einem zweidimensionalen Tableau zusammenfasst, wie ein Tangram-Puzzle, das sich mit jeder Bewegung ändert. «Ich bleibe auch Geologe», sagt Gregory, «mich interessieren Schichten, Lagerungen und Geometrie.»
Anders als Gregor Schneiders obsessionell-singulären Labyrinthe sind die Chapuisats auf geteiltes Leid aus - und auf geteilte Freud. «Für uns ist der Besucher keine Laborratte, sondern Teil des Werkprozesses. Wir laden ihn ein, zu vergessen, dass er in einem Kunstzentrum ist, sich zu verlieren.» Eine intime Erfahrung, wie 2011 im CAN in Neuchâtel, wo sie die Konstruktion wirklich mit ihren Assistenten bewohnten. «Die Besucher sollen die Strukturen benutzen, mit uns deren Erfahrung teilen», erklärt Chapuisat. Dieser Zug ins Gemeinschaftliche wird schon im Künstlernamen manifest: «Zuerst traten wir getrennt mit unseren Vornamen auf, dann wurde das Label passender, weil es das Ineinandergreifen unserer Arbeit wiedergibt», erläutert Gregory. Dann erzählt er von kollektivem Zeichnen in London, bei dem sich die beiden nicht scheuten, anderen Künstlern in die Linien zu greifen. «Das erschreckte die Kollegen - für uns, die der Street Art sehr verbunden sind und von Haus aus ans Teilen gewöhnt sind, war es ganz natürlich.»
Das Brüderpaar als Künstlersubjekt diente schon Jakob Grimm als Gesellschaftsmodell: «nicht die descendenten, erst die collateralen sind es, die einen stamm gründen, nicht auf sohnschaft sowohl als auf brüderschaft beruht ein volk in seiner breite», sagte er in seiner Rede auf den gerade verstorbenen Bruder Wilhelm 1860. So weit geht Gregory Chapuisat nicht, betont jedoch, dass sie aus einer Familie «à l’italienne» stammen, dass immer Onkel, Cousins oder ihre Mutter zu den Vernissagen kommen, man eng zusammenhalte. Solchen Zusammenhalt, bei aller Eigenwilligkeit jedes Mitgliedes zu einem mehr oder weniger stabilen Gebilde geformt, symbolisieren ihre Baukörper.
Schnell versteht man, dass die chaotische Anmutung der Formen, ihr «Flirt mit den Grenzen des Machbaren», Ergebnis präziser Vorbereitung und genauer Kontrolle ist. Dennoch kommen die Bauten unbeschwert daher, sind eher Eulenspiegelei als konzeptueller Rigorismus - und damit weit entfernt von Nationengeist bildenden Fraternitäts-Konzepten des 19. Jahrhunderts. Die brüderlichen Installationen der Chapuisat entziehen sich allzu grosser Bedeutungsaufladung durch anarchischen Witz: «Wir sind verspielt, schaffen unsere eigene Welt, gegen diese ernste, schwere Welt der Grossen», erläutert Gregory, «wir wollen, dass sie ein wenig regredieren, wieder auf vier Pfoten gehen, zumindest, solange sie sich in unserer Installation aufhalten.» Anders als Hans Schaubs Installationen transportieren diese Bauten keine Geschichte. Sie sind einfach da, improvisierte Körper gemeinschaftlich gefundener grafischer Form.

Zeichnung und Gemeinschaftskörper
«Der Besucher unserer Arbeiten ist ein Forscher, soll es wieder werden, etwas kindlich, interesselos.» Dann wird er Teil einer symbolischen Form, wie in , ein seitlich liegender, pyramidenförmiger Holzkörper, den sie im niederländischen Tilburg in den öffentlichen Raum stellten. Sah man Passanten in die offene Ecke schauen, wirkte der Klotz wie das erstarrte, zum Körper gewordene Sehfeld, das gewöhnlich durch ein Dreieck grafisch dargestellt wird. Das führt unweigerlich zu der Frage, wie man so etwas wie «Gemeinschaft» zugleich erzeugen und leben kann, wie man zugleich darin sein und als Betrachter diese Teilnahme wahrnehmen und beurteilen kann. Dieses Vermögen, sich selbst als Teil und als kritischen Beobachter des Kollektivs wahrnehmen zu können, ist elementar für Demokratie. Zum fundamentalen Perspektivwechsel vom starken Einzelsubjekt zum «zoon politikon» können künstlerische Rauminstallationen allgemein und die der Brüder Chapuisat im Besonderen anleiten.
Formal erinnert an Anish Kapoors im Grand Palais, fast könnte man hier eine verkleinerte, raue, bastardisierte Antwort auf dessen grosse Geste sehen. Doch während Kapoor - den Gregory «um seine technische Perfektion beneidet» - den kooperativen Prozess der Werkerstellung hinter seine Künstlerpersönlichkeit stellt, tritt er bei den Chapuisats - schon in ihrer Doppelgestalt - hervor. Diese politische Dimension einer Produktionspraxis, «bei der die Assistenten teilweise freie Hand haben, sich vollständig einbringen können», verabschiedet sich vom singulären Werk als Fixierung eines concetto. Zeichnen und Bauen im Kollektiv legt den Akzent auf das Performative, den Prozess der Erstellung. Das Ergebnis dokumentiert diesen Vorgang gemeinsamen Arbeitens als Schichtung, als Neben- und Übereinander. Und als Resultat koordinierter Aktion: Linien und Akteure werden vor, während und nach der Arbeit mit dem Kollektiv «gestimmt».

Zwischen Ich und Nicht-Ich
In diesem Sinne bilden die Installationen der Brüder Chapuisat einen «Stimmungsraum», in dem sowohl eine eigentümliche Atmosphäre zwischen Witz und tieferer Bedeutung herrscht, als auch eine Abstimmung zwischen Besuchern und «Machern» möglich wird, ein Angebot, von einfacher Interaktion zur Handlung zu finden. Das wird besonders spürbar, wenn die konstruierten Linien ihrer Installationen kommunizieren, wie in Anfang dieses Jahres in der Kunsthalle Luzern. Das riesige Gebilde aus profilierten Holzlatten lud zur Benutzung als Murmelbahn oder Ablauf-System ein - wie sie es bereits im Berliner umgesetzt hatten - entzog sich aber zugleich dieser Benutzung und blieb unabgeschlossen.
Die Ermunterung zum gemeinsamen Handeln verändert die Funktionsweise des Zeichnens, als dessen Erweiterung die Installationen der Brüder Chapuisat fungieren. Ihre Linien verbinden, ohne zu fesseln. «Bei aller Planung legen wir sehr viel Wert auf das Unprofessionelle, das Improvisierte unserer Arbeit», betont Gregory Chapuisat. Kunst und ihre Erfahrung dient auch dazu, den Übergang zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Innen- und Aussenraum zu formen und zu formalisieren. Von der künstlerischen Praxis aus wird Gemeinschaft als Gesellschaft leb- und fassbar - und kann in Frage gestellt werden. In diesem Feld, in diesem Zwischenraum, der sich erst durch Handlung auftut und als gestaltbarer Raum bewohnen lässt, siedeln die grafischen Raumkörper der Chapuisat.

J. Emil Sennewald, Kunstkritiker und Journalist, lebt in Paris.




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